2 Länder – 1 Virus –
ein Erfahrungsaustausch zwischen Jugendlichen aus Bad Kreuznach und Diyarbakır

Die bilaterale Zusammenarbeit der beiden Vereine repräsentiert die Wertschätzung des Bundes zwischen Deutschland und der Türkei. Eine Liebesgeschichte, die seiner gleichen sucht. Die Grundpfeiler dieser langjährigen Beziehung entstanden durch die damaligen Jugendlichen, die als sogenannte Gastarbeiter*innen nach Deutschland gekommen sind. Gelabelt als Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund – ein Teil von Deutschland auf Umwegen. Die Projektinitiative zwischen der Alternativen Jugendkultur e.V. in Bad Kreuznach und Lotus e.V. Diyarbakır behandelte diese Thematik mit Jugendlichen für mehr Inklusion in Zeiten einer globalen Pandemie. Es entstand ein Raum, in dem die Jugendlichen aus beiden Städten die aktuelle Situation gemeinsam beleuchten und sich austauschen konnten. Die Jugendlichen, die bereits in dem von der Alternativen Jugendkultur e.V. durchgeführten Mikroprojekt „Jugendreporter*innen” teilnahmen, erprobten schon vor der Pandemie ihre journalistischen Fähigkeiten. Dieses Mal bauten sie ihre Interviewfähigkeiten aufgrund des Lockdowns gemeinsam mit den Teilnehmenden in Diyarbakir im Online-Format aus. Ein spannender Austausch zwischen den Jugendlichen in Bad Kreuznach und Diyarbakir entstand.

Jugendreporter*innen go online

Während dem schlagartigen Wandel der Welt durch die Pandemie am Anfang des Jahres 2020 war der AJK e.V. Bad Kreuznach einer der ersten Vereine, der seine Projekte ohne Zeit zu verlieren auf digitale Formate umstellte. Dank dieser schnellen Reaktion konnten sie ihre Jugendarbeit trotz der Einschränkungen fortführen. Im Zuge der Digitalisierung wurden Plattformen wie Online-Meetings etabliert. Die Jugendlichen konnten so weiterhin an Projekten, wie zum Beispiel am Mikroprojekt „Jugendreporterinnen” teilnehmen. Die Interviews, die dadurch entstanden sind, behandelten die Auswirkungen der Einschränkungen auf das Leben der Jugendlichen in beiden Ländern. Diese einschneidenden und teils traumatischen Erlebnisse wurden in den Online-Gesprächen gemeinsam behandelt und ein sicheres Umfeld für die Jugendlichen zum Austausch geschaffen. Die Gesprächsführung der Meetings wurde von Kadir Kacan, dem Gruppenleiter des Projektes aus Diyarbakir, zusammen mit dem Simultanübersetzer Ali-Riza durchgeführt.  

Interviews zwischen AJK e.V. und Lotus

Die digitalen Meetings, die zwischen der AJK e.V. Bad Kreuznach und Lotus in Diyarbakir durchgeführt wurden, behandelten Fragen wie: Wie hast du vom Virus das erste Mal erfahren? Was war dein Eindruck und was hat sich für dich verändert? Habt ihr auch wie verrückt Toilettenpapier gekauft und Zuhause gelagert? Neben den bizarren Begebenheiten, wie das Lagern von Toilettenpapier, gab es aber auch viel zwischenmenschliche Solidarität. „Allen war bewusst, dass wir gemeinsam durch eine schwierige Zeit gehen. Diyarbakır hatte keine Probleme mit der Lieferung des Toilettenpapiers, jedoch gab es für kurze Zeit Engpässe mit Nudeln”, sagte Rozerin, eine Teilnehmerin aus Diyarbakır. „In Bad Kreuznach wurden viele Geschäfte, außer Supermärkte, geschlossen. Im Unterricht wurden Masken getragen, 1,5 Meter Abstand zu Mitmenschen war die neue Norm und Großveranstaltungen wurden abgesagt oder verschoben”, sagte Fatma-Gül, eine Teilnehmerin aus Bad Kreuznach.

Größtenteils seien die Unterrichtseinheiten während der Quarantäne zu den üblichen Zeiten von Zuhause aus durchgeführt und die Leistungen unverändert benotet worden. In Diyarbakır galten ähnliche Regelungen im Umgang mit Mitmenschen, obwohl diese Regelungen unklar formuliert worden seien. „Durch diesen plötzlichen Ausbruch des Virus gab es ebenfalls viele Menschen, die nicht an den Virus glaubten. Menschen in Diyarbakır, sowie in vielen Städten Deutschlands hielten sich nicht an die vorgegebenen Maßnahmen. Die Einsicht kam dann erst durch den positiven Corona-Test”, berichtete Rozerin.

Die Expert*innen Runde: Herausforderungen der Pandemie

Auch eine Gesprächsrunde mit Expert*innen aus der Jugendarbeit war Teil des Projekts. Zur Sprache kamen Themen der Alltagsstruktur und ein direkter Vergleich zwischen Deutschland und der Türkei konnte angetastet werden. Im Gespräch waren Oya Ocak, eine Erzieherin, die schon mehrere Jahre in der Jugendarbeit bei Lotus tätig ist und Christopher Karas vom Jugendamt Bad Kreuznach. Im Austausch wurden ihre individuellen Erfahrungen mit dem Virus und die Veränderungen bezüglich ihrer Arbeit besprochen – ein Thema, das zurzeit die ganze Welt bewegt. Für Christopher Karas hatte sich in kurzer Zeit sehr viel verändert. Analog geplante Projekte, die er betreute, wurden aufgrund der Hygienemaßnahmen und Regelungen auf unbestimmte Zeit verschoben oder abgesagt. Nur wenige konnten effektiv ins Digitale übersetzt werden, wie zum Beispiel die Eröffnung eines Jugendcafés in Bad Kreuznach. Sie sollte eigentlich ein Ort der Zusammenkunft für Jugendliche sein, musste dann aber digital stattfinden. Natürlich waren die digitalen Formate sowie auch das Einhalten der neuen Abstandsregelungen und vor allem das Tragen der Maske eine Herausforderung für viele, so Christopher.

Oya Ocak arbeitet seit 10 Jahren in der Jugendarbeit und hat ihren Schwerpunkt auf die Arbeit mit geflüchteten Jugendlichen gelegt. „Die erste Welle war für uns härter als die zweite Welle. In der ersten Welle durften die Kinder beispielsweise nicht mehr in die Schule zum regulären Unterricht gehen, anders in der zweiten Welle, wo dies wieder erlaubt war. Nichtsdestotrotz waren die beiden Lockdowns ein immenser und ungewohnter emotionaler Stress für die Kinder und auch die Eltern”, erzählt Oya.  „Dies hat teilweise zur Erhöhung der häuslichen Gewalt geführt. Wir hoffen, dass es nicht mehr zu einer dritten Welle kommen wird, weil wir kurz vor dem Explodieren sind”, fährt sie fort. Christopher Karas berichtet, dass während des Lockdowns in Deutschland die Zahlen von Anzeigen wegen häuslicher Gewalt zurückgegangen sind, nach den ersten Lockerungen aber wieder vermehrt auftauchten. Dies sei ein klarer Indikator, dass viele Vorfälle während des Lockdowns hinter verschlossenen Türen blieben. Die Folgeschäden, die die Jugendlichen dadurch tragen würden, seien jetzt noch gar nicht absehbar, so Christopher Karas.

Als die Sprache zu einer möglichen dritten Welle kam, waren beide der Meinung, dass man aus der Vergangenheit viele Lehren gezogen hat und nun besser gewappnet ist. Nichtsdestotrotz gebe es immer noch Herausforderungen zu meistern. „Die Schüler*innen benutzen digitale Endgeräte mehrheitlich für Freizeitaktivitäten wie zum Beispiel für das Anschauen von Serien und Filmen. Diese Geräte nun für den Schulkontext zu benutzen, ist für viele von ihnen gewöhnungsbedürftig”, sagte Oya. Der digitale Unterricht wurde nicht von jedem Jugendlichen gleich gut aufgenommen. Diese Herausforderung  sieht auch Christoph in Bad Kreuznach.

Das Bereitstellen von digitalen Endgeräten ist darüber hinaus auch eine finanzielle Frage. „Viele Familien in Diyarbakir können sich die Anschaffung von digitalen Geräten nicht leisten“, erzählt Oya. Dadurch haben sie auch keinen Zugang zu digitalen Plattformen, was dazu geführt habe, dass sie ihre Familien während des Lockdowns bei der Arbeit auf den Straßen unterstützten. Diese Entwicklung sei extrem schlecht für die Kinder und ihre Bildung. Außerdem waren diese Kinder dadurch noch mehr der Krankheit ausgesetzt als in der Schule. 

Warum wir mehr Austausch brauchen

Neben der unbestreitbaren Tatsache, dass die Jugend unsere Zukunft ist, liegt es nahe alles zu tun, um sie so gut wie möglich zu begleiten und zu unterstützen. Der kulturelle Austausch spielt eine entscheidende Rolle bei der Identitätsbildung und dem Verständnis der Verbundenheit zu Deutschland und der Türkei. Nicht allzu selten wird man gefragt „fühlst du dich eher deutsch oder türkisch?“. Ein Identitätskonflikt, der durch solche bilateralen Zusammenkünfte der Vergangenheit angehören könnte. Ein unsichtbarer Feind, ein Virus und zwei Länder, die gemeinsam Standhalten – und plötzlich ist die Identität für einen Augenblick ein gemeinsamer.

Das Projekt ist Teil der Projektreihe „Exploring New Spaces – Widened Perspectives for German-Turkish Youth Exchange“ der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke.
Die Projektreihe wurde aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert.