STARTSCHUSS FÜR EINEN AUSTAUSCH ÜBER BERUFLICHE BILDUNG

Unter den Bildungsmöglichkeiten für junge Menschen ist nichts so internationalisiert wie die akademische Laufbahn. Auslandssemester und zahlreiche andere Möglichkeiten sorgen für einen breiten Austausch über Ländergrenzen hinweg. Im Gegensatz dazu fehlt es in der beruflichen Bildung an genau diesem internationalen Ansatz. Hier wird, so lässt sich jedenfalls in Deutschland beobachten, der Fokus häufig auf das Inland gelegt. Um diesen Nachteil für junge Menschen in der Ausbildung ein Stück weit aufzubrechen, hat die Deutsch-Türkische Jugendbrücke durch eine Pilotveranstaltung einen ersten Schritt getan. Zum Jahresende 2019 trafen sich jeweils zehn Expert*innen aus der Türkei und Deutschland zum „Fachaustausch berufliche Bildung“ in Istanbul.

Doch wie soll eine Fachkonferenz veranstaltet werden, wenn es bisher kaum Veranstaltungen und Projekte zu diesem Thema gibt? Der erfolgversprechendste Ansatz ist zugleich das erklärte Ziel: jegliche Herausforderungen und Lösungen im gemeinsamen Kontext der beiden Länder zu betrachten. Zunächst kommen daher zwei Partnerorganisationen zusammen, welche die von der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke (DTJB) initiierte Konferenz organisieren. Aus der Türkei ist dies Öğretmen Akademisi Vakfı (ÖRAV) und aus Deutschland STUDIO2B. Beide arbeiten zum ersten Mal miteinander und ebenso zum ersten Mal mit der DTJB. Esra Kutman, die für ÖRAV mit vor Ort ist, bringt die anfängliche Herausforderung auf den Punkt: „Als schwierig gestaltete sich der technische Aspekt. Unsere deutschen Partner von STUDIO2B waren in Deutschland und wir hier in der Türkei. Wir haben uns vorher nur einmal von Angesicht zu Angesicht getroffen, danach lief alles über Skype und Mail.” Dennoch, Esra Kutman ist glücklich, denn trotz des intensiven Programms läuft die Veranstaltung reibungslos.

ZWEI SPRACHEN, ZWEI SYSTEME, EIN THEMA

Wie gut der Fachaustausch an diesen zwei Tagen in einem Istanbuler Hotel tatsächlich über die Bühne geht, lässt sich nicht nur daran erkennen, dass alle Teilnehmenden problemlos anreisen konnten, sondern auch am schnellen Einstieg in die Sacharbeit. Damit das funktioniert, sind zwei Dolmetschende vor Ort, die über Funk jedes Wort in die jeweils andere Sprache übersetzen. Auch die Worte der beiden Moderatoren, die ebenfalls aus beiden Ländern kommen und durch die gesamte Veranstaltung führen.

Am ersten Tag geht es zunächst um Grundsätzliches: Wie funktioniert die berufliche Bildung in beiden Ländern? Was sind die Besonderheiten, was die Herausforderungen? Welche Lösungen werden erarbeitet? Dazu gibt es zunächst zwei Vorträge und anschließend einen Workshop in Gruppen. Hier wird auch einer der zentralen Vorteile deutlich: Einige der Teilnehmenden dieser Konferenz sind selbst auch Referierende. Dabei kommen Expert*innen der beruflichen Bildung aus allen Ebenen zusammen. Vom Ministerialbeamten über die Wissenschaftlerin bis zum Berufsschullehrer ergänzen sie sich mit unterschiedlichem Fachwissen.

Beispielsweise Karolin Eisenbaum, die in Münster am Institut für Bildungskooperation im Bereich Berufsortientierung tätig ist. Sie stellt im Rahmen eines Workshops das Projekt „Opportunity Scouting“ vor, welches Berufsschüler*innen beim Übergang von der schulischen Laufbahn in die betriebliche Ausbildung unterstützen soll. Nachdem sie für die Vorstellung des Projekts angefragt wurde, entschied sich Karolin Eisenbaum dazu, auch als Teilnehmerin bei der Konferenz dabei zu sein. Eine gute Entscheidung, sagt sie: „Auch für mich ist es sehr wertvoll, das türkische System kennenzulernen. Und dann ist es auch einfach sinnvoll, um schon früh die Teilnehmer kennenzulernen und vielleicht herauszufinden, wo es eigentlich Bedarf gibt und wie ich den Workshop dahingehend anpassen kann.“

KENNENLERNEN DES ANDEREN SYSTEMS UND KNÜPFEN VON KONTAKTEN

Die andere Perspektive auf berufliche Bildung kennenzulernen, ist auch aus Sicht der Organisation ein besonders spannender Aspekt. Eine der Organisator*innen, Jasmin Siebold, für das Sozialunternehmen STUDIO2B im Bereich berufliche Bildung tätig, ist selbst auch am türkischen System interessiert und bemüht, die für sie neuen Strukturen zu verstehen. Schon bei der Einladung der Teilnehmenden zur Konferenz fiel ihr auf, dass für sie nicht immer klar war, wer für welche Aufgabe zuständig ist: „Was macht die Person, setzt sie etwas um in der beruflichen Welt, oder gestaltet sie die Rahmenbedingungen? Macht sie etwas im politischen Bereich, entwickelt sie eine Vision für die berufliche Bildung oder ist sie an der Berufsschule und berät dort die Berufslehrer?“ Das Kennenlernen der Funktionsweise, der Entscheidungsträger*innen und Lösungsstrategien des anderen Landes ist für Jasmin Siebold eines der Hauptziele der Fachkonferenz.

Ähnlich sieht es auch für Oğuzhan Ülgen. Der ehemalige Lehrer arbeitet heute für İŞKUR – vergleichbar mit der Agentur für Arbeit in Deutschland – als Unternehmens- und Berufsberater. Er sagt: „Der Vorteil dieser Veranstaltung ist, dass wir unsere tägliche Arbeit durch den Austausch mit den deutschen Kollegen einmal mit anderen Augen sehen können. Dadurch profitieren beide Seiten und können neue Ideen entwickeln.“ Doch der Fachaustausch bietet noch mehr als einen reinen Austausch von Wissen. Ganz im Sinne der Organisation wird er auch zum Austausch von Kontakten genutzt. Oğuzhan Ülgen hat sich beispielsweise mit einer Teilnehmerin aus Berlin vernetzt und während der Workshops und Kaffeepausen einen ersten Grundstein gelegt, um möglicherweise auch nach der Konferenz gemeinsame Projekte umzusetzen.

NETZWERKEN AUCH AUF DEM BOSPORUS

Gelegenheiten zu Gesprächen gibt es während der zwei Tage in Istanbul reichlich. Nicht nur beim gemeinsamen Mittagessen, sondern auch bei der abendlichen Bosporustour mit gemeinsamen Dinner auf einem Schiff. Private Gespräche unter den Teilnehmenden sind hier erwünscht, und dennoch: Es geht immer wieder um das Thema berufliche Bildung. Auch Till Piontek nutzt die Gelegenheit zum informellen Austausch, um auf ein Projekt hinzuweisen, welches er bald angehen wird. Piontek ist Studiendirektor an einem Berufskolleg in Leverkusen und Fachberater der EU-Geschäftsstelle in Köln. Internationale Kooperation und Projektarbeit stehen bei ihm im Fokus. „Wir sind dabei, ein europäisches Projekt zu implementieren, indem es um digitale Hilfsmittel im Gesundheitswesen geht. Darauf aufbauend sollen Lerneinheiten für Schüler entwickelt werden“, sagt Till Piontek und erläutert die Bedeutung der Digitalisierung im Berufsschulwesen. Er fügt hinzu: „Wir müssen unsere Schüler darauf vorbereiten und fit machen.“ Aus diesem Grund lädt er – neben Partner*innen aus Finnland und Italien – auch seine türkischen Kolleg*innen ein, an der Kooperation teilzunehmen. Hier wird der Ansatz von Netzwerken, den dieser Fachaustausch beabsichtigt, zur Realität

Am Morgen des zweiten Tages werden die bisherigen Ergebnisse noch einmal zusammengefasst. Doch zunächst sollen die Teilnehmenden aus einem großen Stapel Bilder ein Foto auswählen, welches die Veranstaltung ihrer Meinung nach gut beschreibt. Anschließend halten einige von ihnen das Bild hoch und erklären, warum sie es gewählt haben. Ein Teilnehmer hält ein weiß-blaues Foto hoch, hunderte von kleinen Eisschollen sind zu sehen. Er hat dieses Bild gewählt, da auch die Teilnahme am Fachaustausch berufliche Bildung immer neue Erkenntnisse für ihn hervorgebracht haben. Wie die Eisschollen auf dem Foto fügen sich diese Informationen aus dem jeweils anderen Land allmählich zu einem großen Bild zusammen, sagt er.

EIN AUFTAKT FÜR WEITERE PROJEKTE

Danach steht ein weiterer Workshop an, in dem es um mögliche Lösungen für die zuvor erkannten Herausforderungen in beiden Ländern geht. Dass es nach der Konferenz noch viel zu erarbeiten gibt, liegt auf der Hand. Doch dieser Austausch soll nicht der letzte sein: Das Organisationsteam sieht ihn viel mehr als eine Auftaktveranstaltung, ein Startschuss für zukünftige Projekte. Dieses Ziel wurde erreicht, denn bei der obligatorischen Feedback-Runde zeigt sich bereits, dass die Teilnehmenden angeregt und motiviert für eine Fortsetzung sind. Trotz der generell positiven Rückmeldungen gab es auch Ideen und Vorschläge, was beim nächsten Mal noch besser gemacht werden kann. So wurde geäußert, dass zukünftig auch die Betroffenen selbst, also die Berufsschülerinnen und -schüler stärker in die Überlegungen der Expert*innen eingebunden werden sollten. Alle Punkte wurden durch die Organisator*innen gesammelt und aufgezeichnet. Nun gilt es für die DTJB, aus diesem Feedback der ersten Veranstaltung zum Thema berufliche Bildung in der Türkei und Deutschland, gute Konzepte für weitere Projekte zu erstellen.

Das Projekt ist Teil der Projektreihe „Building Future Bridges“ der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke.
Die Projektreihe wurde aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert.