BLICKWECHSEL

Das “Blickwechsel”-Programm am Nürnberger Staatstheater bringt Menschen aus der Türkei und Deutschland zusammen, um sich eine Woche mit den Themen Identität, Zuhause und Verortung in der Welt auseinanderzusetzen. Eine emotionale Erfahrung, die anschließend mit Wort, Tanz und Klang auf die Bühne gebracht wird.

Das Staatstheater Nürnberg, insbesondere die Sparte Schauspiel, befasst sich seit der Spielzeit 2018/2019 mit dem Thema Diversität und setzt dabei sowohl auf den Austausch mit der Nürnberger Stadtgesellschaft, als auch auf die Zusammenarbeit mit Partner*innen aus verschiedenen Ländern. Unter dem Titel „lmport/Export” werden drei internationale Wochenenden pro Jahr veranstaltet, die jeweils mit einem Land und einem Thema überschrieben werden. In diesem Jahr liegt der Fokus auf dem Land Türkei – und das Programm umfasst das Format „Blickwechsel”. Bei dem von der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke geförderten Projekt werden zehn Teilnehmende aus dem Gastland eingeladen. Im Vorfeld des internationalen Wochenendes verbringen die Gäste eine Woche in Nürnberg und verarbeiten ihre Eindrücke künstlerisch in Zusammenarbeit mit Nürnberger Teilnehmenden. Die Ergebnisse werden dann in Form einer Veranstaltung, einer Ausstellung oder einer Installation öffentlich präsentiert.

Kurz vor Jahresende ist in diesem Kontext die Organisation Platform Tiyatro aus Istanbul mit zehn jungen Teilnehmenden zu Gast am Nürnberger Staatstheater. Platform Tiyatro wurde 2016 von Mark Levitas, Regisseur, Schauspieler und Akademiker, sowie Ceren Ercan, Dramaturgin und Autorin, gegründet. Der Hauptzweck der Plattform besteht darin, zeitgenössische Texte von türkischen Dramatiker*innen mit einem einzigartigen Ansatz der Regie auf der Bühne zu inszenieren.

BEGRIFFE, DIE SICH IMMER NUR UM, ABER NIE MIT EINEM DREHEN

„Aus 483 Interessenten haben wir die zehn jungen Leute ausgewählt, die jetzt mit uns hier sind” sagt Mark Levitas und ist noch immer überrascht von der Flut an eingegangenen Bewerbungen. Als die Einladung aus Nürnberg kam, waren sich beide, Ceren und Mark, einig, dass sie sehr gerne Teil eines solchen Austausches sein wollen. Nach einem langen Auswahlverfahren säßen sie nun hier mit ihren zehn Auserwählten, erzählen sie. Bereits bevor sie Anfang Dezember in den Flieger nach Deutschland gestiegen sind, haben sie sich in mehreren Sitzungen im Theater mit den Teilnehmenden viele Gedanken zu Fragen wie Von-hier-sein, Heimaten und Identität, gemacht. Das Verorten des eigenen Ichs im Kontext der Geschichte ist zentraler Aspekt des Austausches.

„Um dem nachfühlen zu können, erstellten unsere Gastgeber in Nürnberg ein Programm, das sich intensiv mit der Stadt befasst”, sagt Ceren. Beispielsweise eine Tour durch die Stadt, die zusätzlich zu den bereits vorhandenen Fragen nochmal neue aufwarf. Wie positionieren oder verorten sich Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund im gesellschaftlichen Leben? Wie nehmen sie die Gesellschaft wahr? Wie geht man mit Begrifflichkeiten um, die sich immer um einen, aber nie ganz mit einem zu drehen scheinen? In der Nürnberger Gruppe sind auch deutsch-türkische Teilnehmende dabei, die einen dritten Raum, kulturell sowie auch sprachlich, öffnen.

„Fünf Tage sind natürlich keine lange Zeit, um Antworten zu finden, aber darum ging es auch nicht. Vielmehr ging es um den Versuch, den Blick des Anderen einzunehmen, sich freizulassen und einzutauchen, zu versuchen ein Gefühl entstehen zu lassen, für eine alternative Perspektive. Und auch darum, den eigenen Raum zu teilen und neu zu interpretieren. Wenn wir es schaffen sollten, dass diese jungen Leute eine eigene Kommunikationsform, auswärts von Sprache, entwickeln können, werden wir schon viel geschafft haben. Das war der Grundgedanke am Anfang und ich denke, wir haben unser Ziel erreicht”, sagt Ceren und lächelt zufrieden.

GRENZAUFHEBUNG ZWISCHEN KULTUREN, SPRACHEN UND DISZIPLINEN

Es gehe um den Prozess, um das gemeinsame Arbeiten und weniger um das Endergebnis, meint Gonca Çelik: „Ich habe nicht geglaubt, dass ich eine Chance habe, als ich mich beworben habe, da ich nicht unbedingt auf irgendeine Weise künstlerisch begabt bin. Deswegen war ich positiv überrascht, als ich eingeladen wurde”, sagt sie verlegen. Gonca ist ist 25 Jahre alt und ist eine der zehn Teilnehmenden aus der Türkei. Sie studiert cultural science im Master an der Bogazici Universität und schreibt gerade an ihrer Abschlussarbeit. Nebenbei arbeitet sie freiwillig als Projektassistentin an einem Theater in Istanbul. „Um irgendwelche Skills an sich dreht sich das hier aber auch nicht. Das, was verlangt wurde, war Interesse am Austausch und von dem habe ich genug”, fügt sie hinzu. Sie hätte nicht genau gewusst, was sie hier erwartet: „Es klang alles ein wenig abstrakt”, so wie es immer abstrakt klinge, wenn es um kulturelle Verortung geht. Erst dann in Nürnberg, im Dialog mit ihren Pendants, hätte vieles Form angenommen.

In diesen fünf Tagen haben alle Teilnehmenden sehr viele und auch sehr tiefgreifende, emotionale Einblicke von Nürnberg und ihren Bewohner*innen gewonnen, sagt sie. Die Eindrücke hätten sie dann in verschiedenen Workshops textlich, bildlich und tänzerisch in Gruppenarbeit versucht zu verarbeiten. Dabei sei sehr viel Interessantes herausgekommen. Auf die Frage, was sie mit nach Istanbul nehmen werde, antwortet sie: „Freunde. Ich werde sehr viele Freunde mitnehmen. Ich habe hier viele Menschen getroffen, die ich plane wiederzusehen. Ich habe sehr viel gelernt in dieser knappen Zeit. Dass es zum Beispiel beim Schaffensprozess keine Grenzen gibt. Ich habe gelernt, interdisziplinär zu arbeiten und dass es möglich ist, in so kurzer Zeit mit den richtigen Leuten Phänomenales zu schaffen”, sagt sie und muss schon wieder zurück, denn heute ist der letzte Probentag. Morgen ist die große Vorstellung und es herrscht eine Aufbruchsstimmung.

ES IST NICHT NUR EIN AUSTAUSCH ZWISCHEN DER TÜRKEI UND DEUTSCHLAND

Auch Nora Dorin Rolfs, eine der Teilnehmenden aus Nürnberg, schleicht sich nur kurz aus der Probe, sie möchte nichts verpassen. Nora kommt eigentlich aus Nordrhein-Westfalen, sie studiert Theaterpädagogik, hat eine Zeit lang in Berlin gelebt und ist nun in Nürnberg. Gehört von dem Projekt hat sie über eine Kommilitonin, die Mitorganisatorin des Projektes ist. Ihre Erwartungen von dieser Woche seien sehr offen gewesen, weil man nie wisse auf wen man trifft, wie die Gruppendynamik ist, was im Prozess passiert oder was man erarbeite. Das einzig Konkrete, was sie erwartet habe, sei es, eine gute Zeit zu haben und sich auszutauschen. In den vergangenen fünf Tagen ist viel geschehen, erzählt sie: Sie haben viel improvisiert und sind nun dabei die Choreografie zu bündeln, damit aus den Eindrücken der letzten Tage eine Performance entstehen kann.

Besonders gefällt Nora der interdisziplinäre Charakter des Projektes: „Wir haben Maler dabei, Tänzer, Schreibende”, sagt sie. Durch die vielen Leute aus sehr unterschiedlichen Bereichen gewinne der Output an Fülle. „Ich selber mag lieber Sprechtheater. Ich habe einen Text geschrieben, der mit einfließen soll. So kommt einfach vieles zusammen, was wir versuchen in einem Prozess zu lernen.” Das Interessante für sie sei auch gewesen, dass sich im Laufe dieser Zeit herauskristallisierte, dass dies nicht nur ein Austausch zwischen Deutschland und der Türkei sei, sondern dass es durch die türkeistämmigen Menschen in Deutschland noch eine dritte Gruppe gäbe, die mit involviert sei: „Und diese dritte Gruppe spielt eine zentrale Rolle in der Performance”, sagt sie. Es sei für sie auch bemerkenswert gewesen, von ihren Pendants aus der Türkei gespiegelt zu bekommen, dass das Wissen über das Deutsch-Türkische in der Türkei oft nicht über Stereotype hinausgeht und wenig Bewusstsein für die Vielfalt der deutsch-türkischem Kulturszene vorhanden ist.

Sie hat vorher nie an einem solchen Austauschprojekt teilgenommen und sei ziemlich überwältigt von der Intimität, die sie erlebt habe: „Diese Thematik, also Identität und Verortung, ist mir nicht fremd und ich stelle mich diesen Fragen nicht das erste Mal, aber noch nie habe ich mich so intensiv im Austausch mit den Konstrukten von Zuhause oder Fremde auseinandergesetzt.” Sie habe gesehen, dass man sprach- und kulturübergreifend im Theater viel herausarbeiten könne. „Es ist ein sehr emotionaler Prozess und sensibilisiert dich. So ein Projekt macht was mit dir, es verändert dich”, sagt sie noch zum Schluss, bevor sie sich verabschieden muss.

DIE EBENE DER ZWISCHENRÄUME

„Hier geht es gerade etwas drunter und drüber”, sagt Sabrina Härtle die Projektleiterin, munter als sie sich zu mir setzt. Sie ist sichtlich mitgerissen von der lebhaften Stimmung im Raum, so wie alle. Auf meine Frage, was denn hier geschehe sagt sie: „Wir versuchen eine Brücke zwischen den Ländern, den Kulturen und den Sprachen zu schlagen” und fügt hinzu, dass sie erst im Nachhinein merke, dass sich vieles um Sprache drehe. „Die Sprachbarriere war schwieriger als wir erwartet hatten. Natürlich fällt es schwer über eine Fremdsprache zu kommunizieren, weswegen viel übersetzt werden musste. Genau hier wurde uns allen, denke ich, die verbindende oder auch brückenschlagende Besonderheit der Deutsch-Türken und die Natürlichkeit, in der sie das tun oder damit umgehen, klarer.” Mit den deutsch-türkischen Teilnehmenden käme noch eine ganz andere Ebene und zwar, die der Zwischenräume dazu, was dem Ganzen nochmal eine andere Note gäbe, sagt sie.

Die unglaubliche Motivation der Teilnehmenden spricht für sich: Etwas wurde in Bewegung gesetzt in dieser Woche in Nürnberg in diesen Räumen. Etwas, das alle Teilhabenden ergriffen zu haben scheint. Nahezu euphorisch blitzen die Blicke der Teilnehmenden und lassen einen leise in sich hinein wundern. Diese virulente Energie von Austauschprojekten ist immer wieder aufs Neue faszinierend und packt einen nah am Herzen. Ganz tief im Labyrinth des Theaters gehen die Vorbereitungen für die Aufführung am Samstag weiter. Man hört sie lachen, hinter verschlossenen Türen, sehen darf man noch nichts. Doch es lässt schon durchblicken, dass es etwas Ergreifendes sein wird.

Das Projekt ist Teil der Projektreihe „Building Future Bridges“ der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke.
Die Projektreihe wurde aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert.