“Nature Connected Youth“ – Besser draußen als drinnen

Wie sich ein digitaler Jugendaustausch mit der Natur verbinden lässt

Das Erlernen von Fähigkeiten ist ein Prozess, den jeder Mensch von frühester Kindheit an tausendfach durchläuft. Die ersten Schritte, um sich durch die Welt zu bewegen. Die ersten Wörter, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Dann irgendwann schreiben und lesen, um auf das Wissen der gesamten Menschheit zurückgreifen zu können. Doch eine der naheliegendsten und natürlichsten Fähigkeiten wird immer seltener erlernt: das Verständnis von und der Umgang mit der Natur. So schreiben es die beiden Trainerinnen Banu Binbaşaran Tüysüzoğlu und Burcu Meltem Arık im Vorwort zum digitalen Jugendaustausch „Nature Connected Youth“. Digital, weil durch die Corona-Pandemie kein direkter Kontakt möglich ist.

Nichtsdestotrotz lässt sich mit der Hilfe des Internets die Natur vor der eigenen Haustür erforschen – das zumindest haben die beiden Trainerinnen mit insgesamt vierzehn Teilnehmenden aus der Türkei und Deutschland unter Beweis gestellt. Ende Oktober 2020 – als in beiden Ländern die zweite Viruswelle rollte – kamen die Jugendlichen im Alter von 18 bis 27 Jahre für 10 Tage im digitalen Raum zusammen, um ihre Fähigkeiten und ihr Wissen in Sachen Natur auszubauen und sich gleichzeitig in interkultureller Kompetenz zu üben.

Doch wie genau funktioniert das? „Wir haben dieses Training entwickelt“, erklären Burcu und Banu, „um andere Menschen dabei zu unterstützen, die Natur auch in der eigenen, unmittelbaren Umgebung besser kennenzulernen. In unserem Programm wollten wir daher eine einfache Möglichkeit bieten, Beobachtungen mit Hilfe eines Naturtagebuchs aufzuzeichnen.“ Gemeint sind Einzel- und Gruppenaufgaben, welche von den Teilnehmenden jeden Tag bearbeitet werden sollen. Burcu unterrichtete fünf Jahre die Kurse Ecological Literacy and Sustainability und Biomimicry an der Istanbul Bilgi University, während Banu Mitbegründerin des Hauses der Naturspiele (Doğa Oyunları Evi) ist und seit 2016 ebenfalls an der Bilgi Universität in den Fächern Ökologische Kompetenz und Nachhaltigkeit lehrt. Die beiden halfen bei der Entwicklung des Jugendaustauschs und arbeiteten anschließend auch als Trainerinnen mit den jungen Erwachsenen.

Auf der Rinde eines Baumes

Bevor es jedoch hinaus in die Natur geht, steht auch bei diesem Jugendaustausch ein Kennenlernen an, welches sich aufgrund der gemeinsamen Arbeitssprache Englisch und der Videokonferenz über Zoom als leicht zu händeln erweist. Für die spätere Arbeit an den (Gruppen-)Aufgaben stehen digitale Lösungen wie WhatsApp, Padlet, sowie Google Slides und Docs zur Verfügung. Auffallend ist, dass ein mehrtägiger Workshop im digitalen Raum ein besonders hohes Maß an Organisation verlangt. Anders als bei Austauschprojekten früherer Jahre – bei denen alle Teilnehmenden sich auch bei den Mahlzeiten informell absprechen oder Planänderungen durch die Leitung recht spontan erfolgen konnten – muss bei „Nature Connected Youth“ wirklich gut geplant werden. Das gelingt mit einer Art Stundenplan, der jedem Tag ein Thema widmet und die genauen Zeiten festlegt, wann sich beispielsweise im Videochat besprochen und wann draußen vor der Tür Beobachtungen angestellt werden. An den meisten Tagen gibt es je ein morgendliches Meeting zur Besprechung der anstehenden Aufgabe und ein abendliches, zur Präsentation der Ergebnisse.

Da ist beispielsweise das Bingo-Spiel, bei dem 25 Kästchen mit verschiedenen Aufgaben gefüllt sind. „Finde eine Wolke, die aussieht wie ein Schaf“, gibt Nilay Küme von der Organisation Neden ein Beispiel für eine dieser Aufgaben. Finde ein Insekt, das Verstecken spielt und Sammle drei Samen, lauten andere der Aufgaben, von denen man – wie beim Bingo – 5 in einer Reihe erfüllen muss. Den Sinn dahinter erklärt Nilay so: „Wenn man zum Beispiel einen Baum näher begutachtet, um dort ein Insekt zu finden, ist man in der Lage, auch andere kleine Tiere zu entdecken und noch viel mehr wahrzunehmen.“ Die Beschaffenheit der Rinde, eine Ameisenstraße, eine verpuppte Raupe, Pilze und Flechten – Es gibt vieles, das sich an und um einen Baum versteckt und im Alltag sonst nicht wahrgenommen wird.

Durch die Natur, statt nur vor dem PC

‚Neues zu entdecken‘ könnte auch die Überschrift der Herangehensweise sein, wie „Nature Connected Youth“ überhaupt zustande kam. Für ihren ersten gemeinsamen Jugendaustausch schlossen sich die türkische Organisation Neden (türk. Grund (für etwas)) und die deutsche Bildungsinitiative DENK GLOBAL! zusammen. Beide Organisationen setzen sich für alternative Lernansätze bei jungen Erwachsenen ein und versuchen, diese mit einem nachhaltigen Bewusstsein zu verbinden. Hilfreich war die Datenbank der Jugendbrücke, erklärt Nilay Küme, „denn so wurde uns als Neuling im Bereich des türkisch-deutschen Jugendaustauschs die Verknüpfung mit einer anderen Organisation erleichtert, die genau wie wir die Motivation hatte, in diesem Bereich zu arbeiten.“

Die Idee selbst wurde allerdings aus der Not heraus geboren. Die meisten Organisationen haben während der Pandemie ihre Veranstaltungen und Workshops ins Internet verlagert, um sie überhaupt durchführen zu können. „Gleichzeitig hat das gerade die jungen Leute erschöpft“, erklärt Nilay. „Es war wie eine Überdosis. Wir haben also versucht, einen Weg zu finden, einerseits online zusammenzukommen, dabei trotzdem aber an der frischen Luft zu sein.“ Ein Ansatz, den auch die Berliner Studentin Zita nur gutheißen kann: „Am meisten gefällt mir daran, dass ich durch die Fotos und Erzählungen der anderen Teilnehmenden viel aus der Natur in der Türkei mitbekomme.“ Zita, die bereits ein Auslandsjahr in der Türkei absolviert hat und seither weiter Türkisch lernt, ist besonders am deutsch-türkischen Jugendaustausch interessiert. Ausschlaggebend für ihre Teilnahme an „Nature Connected Youth“ ist jedoch „die Verbindung zu Aktivitäten in und über die Natur“ – genau das, was Neden und DENK GLOBAL! beabsichtigt haben.

Auf der Reise zu einem anderen Land

Jeden Tag mit offenen Augen vor die eigene Tür zu treten, ist auch für Zita eine willkommene Ablenkung zur Pandemie. „Mir gefallen die Journaling strolls, bei denen wir ein paar Stunden Zeit haben, in unserer Umgebung spazieren zu gehen und eine bestimmte Aufgabe zu verfolgen“, erzählt die Studentin. Neben dem bereits beschriebenen Bingo-Spiel, sind das unter anderem das Bauen von Kieselstein-Türmen, das Anlegen einer Umgebungskarte und das Schreiben eines Haikus; einer sehr kurzen, japanischen Gedichtform. Auch Gruppenaufgaben werden gestellt. So können die Teilnehmenden in Kleingruppen eine Fotocollage von in der Natur vorkommenden Zahlen, wie zum Beispiel zwei Flügel am Schmetterling, drei Blätter am Kleeblatt, vier Blüten an einem Zweig, anfertigen.

Halime, die Biologie an der Technischen Universität des Nahen Ostens (METU) studiert, erklärt ihre Begeisterung für die Beobachtung der Natur so: „Ich bewundere die nicht enden wollende Reihe von Entwicklungen, die sich in der Natur abspielen. Mich als Teil davon zu fühlen und in Harmonie damit zu leben, ergibt für mich einen tieferen Sinn. Deshalb liebe ich es, die Natur zu beobachten und die Einzelteile, die sich in meinem Kopf angesammelt haben, zusammenzufügen, um neue Gedanken zu entwickeln.“ Doch Halime kann noch mehr aus dem Projekt ziehen, denn auch der Umgang mit den anderen jungen Erwachsenen ist lehrreich. Die Studentin schildert, das gute Verhältnis zu den anderen Teilnehmenden und wie lehrreich nicht nur der Kontakt zur Natur, sondern auch zu jungen Menschen aus Deutschland für sie ist. „Durch dieses Projekt hatte ich auch das Gefühl, eine Mini-Deutschlandreise gemacht zu haben“, erklärt sie.

Mit der Sprache einer anderen Person

Die Kommunikation außerhalb der eigenen Muttersprache ist nur für Wenige ein leichtes Spiel. Doch die Durchführung von „Nature Connected Youth“ im digitalen Raum bietet auch hier Chancen, denn was liegt im Internet näher, als ein Übersetzungsprogramm oder ein Online-Wörterbuch, wenn man einmal ins Stocken gerät. „Trotzdem haben wir manchmal Missverständnisse gehabt“, berichtet Halime, „doch wir haben Mentoren, die sowohl aus Deutschland als auch aus der Türkei Brücken schlagen können, wenn es einmal eine sprachliche Barriere gibt.“ Die Sprache stellt letztendlich keine Hürde da, wenn sich die Vorstellungen und Ideen ähneln, man die gleichen Ideale verfolgt.

Dem stimmt auch Zita zu, die von Teilnehmenden spricht, die ein bisschen besser oder schlechter Englisch sprachen als der Rest. „Da haben sich vielleicht einige nicht so vielseitig ausdrücken können, aber es wurde insgesamt ein Raum geschaffen, in dem sich niemand schlecht fühlen muss, wenn er oder sie kein perfektes Englisch spricht.“ Wichtig ist eben nicht die Sprache, sondern der Inhalt.

Über die Vielseitigkeit von Mensch und Natur

Nilay macht noch auf eine spannende Parallele aufmerksam: „In dieser Welt sind Menschen sehr divers, aber auch in der Natur gibt es Diversität. Wir – als Menschen – stehen jedoch nicht außerhalb dieser Diversität. Wir sind alle miteinander verbunden, auch wenn die Lebensumstände, unser Äußeres oder unser Handeln verschieden sind. Aber wie wir miteinander interagieren, voneinander lernen und wie wir leben, hängt zusammen – eben auch mit der Natur.“ Aus genau diesem Grund – dem Bewusstsein um die Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur; aber auch Menschen untereinander – sind Workshops wie „Nature Connected Youth“ so wichtig. „Es gibt auch ein Booklet als Outcome unseres Austauschs“, ergänzt Nilay, „darin finden sich alle Aktivitäten, die wir in den zehn Tagen durchgeführt haben. Das ist vielleicht auch für andere Organisationen interessant, die ihre Arbeit in die Natur verlegen möchten.“

Das Projekt ist Teil der Projektreihe „Exploring New Spaces – Widened Perspectives for German-Turkish Youth Exchange“ der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke.
Die Projektreihe wurde aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert.

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