SOZIALER WANDEL DURCH SPORT – EIN EXPERT*INNENTREFFEN

Wissensaustausch und Netzwerkarbeit sind elementar für Organisationen, um Projekte zu verwirklichen und weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck trafen sich im November 2019 jeweils zehn Akteur*innen der Sportsozialarbeit aus der Türkei und Deutschland in Hamburg bei “Share the Move”.

Hamburger Nebel umgibt die Teilnehmenden des Austausches, die vor dem Eingang der Hamburg Towers, einem Basketball-Stadium mit Erstligateam, auf Einlass warten. Heute sehen sie sich erfolgreiche Projekte aus der Sportsozialarbeit an. Die Hamburg Towers haben ihren Ursprung in eben so einem Projekt. “Sport ohne Grenzen” heißt es, und arbeitet mit Jugendlichen aus sozial schwachen Verhältnissen mithilfe des Sportes an Fähigkeiten wie Fairness, Teamgeist und Selbstvertrauen.

Durch Sport sozialen Wandel zu gestalten, das wollen die Organisationen aller Teilnehmenden an diesem Austausch. Ein großer gemeinsamer Nenner – und doch kommen alle Teilnehmenden mit unterschiedlichen Herangehensweisen und Erfahrungsschatz zusammen. Die gemeinsame Zeit in Hamburg nutzen sie, um ihre Erfahrungen zu teilen, sich gegenseitig kennenzulernen und gemeinsame Projekte für die Zukunft zu entwickeln.

Organisiert wurde “Share the Move” von “SUPR SPORTS” aus Hamburg und “BoMoVu” aus Istanbul mit der Unterstützung der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke und des Auswärtigen Amts. “BoMoVu” und “SUPR SPORTS” brennen dafür, Sport als Mittel zu nutzen, um Menschen zusammenzubringen und voneinander und miteinander zu lernen. Und genau davon lebt auch dieser Austausch. Denn auch die Gestalter*innen des Bereichs Sozialsport können sich gegenseitig bereichern. “Mir ist vor allem wichtig, dass hier ein Wissenstransfer stattfindet”, sagt Jens Dreesen, Gründer von “SUPR SPORTS”. Von Themen wie Finanzierung bis hin zu Sportübungen für unterschiedliche Zielgruppen könnten die Teilnehmenden viel voneinander lernen.

Zu diesem Zweck besteht der Austausch aus drei verschiedenen Elementen: Zum einen gibt es Seminare zu Themen wie Impactmessung bei Sportprojekten oder Gender im Sport. Hierzu haben die Organisator*innen Vortragende aus beiden Ländern engagiert, die den Teilnehmenden detaillierte Einblicke geben. Zum anderen beschäftigen sich die Teilnehmenden in einer Art Barcamp in Arbeitsgruppen mit selbst festgelegten Themen, wie Finanzierung oder Freiwilligenarbeit und teilen ihre Erfahrungen. Weiter werden verschiedene soziale Sporteinrichtungen besucht.

Wie zum Beispiel “Sport ohne Grenzen.” Der Mitbegründer Jan Fischer führt die Gruppe durch das Stadion der Hamburg Towers, in dem die Profibasketballer gerade Training haben. Er erzählt, was für ein wichtiger Schritt es war, das Stadion und damit auch die soziale Sportarbeit so präsent inmitten des Viertels Wilhelmsburg in Hamburg zu verankern. “Der eine Effekt ist eine Art Coolnessfaktor. Die Jugendlichen sehen den Profisport hier, sie sehen die Hallen inmitten ihres Viertels. Und da bekommen sie Lust, bei uns mitzumachen”, sagt er. Der andere Faktor sei die Wirkung in die Öffentlichkeit. Man gäbe durch den prominenten Auftritt eben diesen Jugendlichen Raum und Präsenz nach außen.

GEGENSEITIGE INSPIRATION UND PERSPEKTIVWECHSEL

Gülden Okçu Engin vom “Gençlik ve Spor Bakanlığı” empfindet die Einblicke, die Jan Fischer gibt, als Inspiration für ihre Arbeit in Çanakkale. “Wir planen in unserem Viertel etwas ähnliches. Ein Sportzentrum für Sinti und Roma. Allerdings hatten wir den Aspekt der Sichtbarkeit nicht so sehr im Kopf. Ich habe jetzt direkt eine Mail an meine Abteilung geschrieben. Wir müssen das größer denken und das Sportzentrum sichtbarer in der Stadt platzieren.”

Neben gegenseitiger Inspiration ist es für die Teilnehmenden auch interessant, die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in der Türkei und Deutschland in den Blick zu nehmen. Zum Beispiel, wie Sport in beiden Ländern wahrgenommen wird und möglich ist. “In Deutschland wachsen die meisten Kinder irgendwie mit Sport auf. Überall gibt es Vereine und Orte dafür. In der Türkei, so habe ich hier gehört, kommen viele mit Sport erst im Erwachsenenalter in Berührung”, erzählt Rosalie Wegis von “Wir machen Welle e.V.” aus Berlin.

“Bei uns wird Sport nicht so flächendeckend angeboten und genutzt”, stimmt Bengisu Avcı zu. Sie war bis 2015 im türkischen Schwimmerinnen-Nationalteam. Jetzt engagiert sie sich bei “Karşıyaka One team”. Sport, sagt Bengisu Avcı, sei natürlich auch teuer. Fürs Schwimmen zum Beispiel bräuchte es kostspielige Hallen. Die Ausübung einer solchen Sportart könnten sich in der Türkei eher finanziell Bessergestellte leisten. Ihr Verein hat sich deshalb auf eine niedrigschwellige Sportart – das Laufen – konzentriert und möchte unterschiedlichste Menschen dadurch zusammenbringen. Bengisu Avcı allerdings denkt über alternative Möglichkeiten nach, die Sportart Schwimmen zugänglicher für alle zu machen. Durchs Outdoor-Schwimmen zum Beispiel. In Izmir, wo sie wohnt, sei das eigentlich gut möglich, findet sie. Durch das Impact-Seminar am Tag zuvor fühlt sie sich motiviert, diese Überlegungen jetzt auch in einem konkreten Format an ihren Verein heranzutragen.

SPORT IST IMMER AUCH GESELLSCHAFTSPOLITISCH

Nach der Vorstellung der Arbeit des Vereins “Sport Ohne Grenzen” in den Hamburg Towers findet eine Gesprächsrunde statt, in der die Workshop-Teilnehmenden Fragen und Überlegungen gemeinsam besprechen. Ein Punkt, der auch in einem anschließenden Gender-Seminar diskutiert wird, ist die Thematik Frauen im Sport. Wie sehr wird in der Sportsozialarbeit darauf geachtet, Frauen als Coaches und damit als Vorbilder zu engagieren und auch Mädchen an Sportarten heranzuführen, die traditionell eher an das männliche Geschlecht gebunden sind, wie zum Beispiel Basketball oder Kampfsportarten?

In der Diskussion wird schnell klar, dass dieses Thema intersektional betrachtet werden muss. Insbesondere Mädchen aus migrantischen Familien seien als Zielgruppe schwer erreichbar, erzählt Jan Fischer von seinen Erfahrungen bei “Sport ohne Grenzen”. Nil Delahaye von “BoMoVu” aus Istanbul kennt die Problematik und weiß Abhilfe: konkrete Zusammenarbeit mit Personen, in diesem Fall Frauen mit migrantischen Background, auf Entscheidungsebene.

“Wir beschäftigen uns in unserem Verein immer wieder mit der Sensibilisierung dafür, Minderheitenperspektiven einzubeziehen und auch sicher zu gehen, dass eine Begegnung auf Augenhöhe stattfindet”, erzählt sie. Gerade in Organisationen, die sozialen Wandel voranbringen wollen, durch Sport oder andere Aktivitäten, müsse diese Sensibilität immer wieder geschaffen werden. Der dreitägige Austausch gibt Raum dafür, diese verschiedensten Aspekte der sozialen Sportarbeit genauer zu beleuchten.

NACHHALTIGE ZUSAMMENARBEIT UND ZUKUNFTSPLÄNE

Neben den theoretischen Diskussionen geht es auch ganz konkret um Kooperationsmöglichkeiten und neue Projektideen. Birte Frische vom “ABC Bildungs- und Tagungszentrum” bei Stade meint: “Konkrete Kooperationsprojekte entstehen ja immer aus der Begegnung. Man lernt sich kennen, erfährt etwas über die Arbeit der anderen Organisationen, wird voneinander inspiriert und baut gegenseitiges Vertrauen auf. Und dafür ist dieser 3-Tage-Workshop eine sehr gute Möglichkeit.” Sümeyya Genç vom “GemeinschaftErlebnis Sport” aus Stuttgart überlegt schon konkret, wie ein Austausch mit Sportbegeisterten in Izmir stattfinden könnte. Und Burcu Gençal von der “Adana Büyükşehir Belediyesi” möchte “Sport ohne Grenzen” aus den Hamburg Towers zu einem Freundschaftsspiel mit den Rollstuhlbasketballern in Adana einladen.

GEMEINSAM IM NAMEN DES SPORTS

Erste Anknüpfungspunkte sind geschaffen und Perspektiven erweitert. Gleichzeitig hat der Austausch den Teilnehmenden auch eine Menge Motivation mit auf den Weg gegeben. Annabell Röhrig von “In Save Hands e.V.” aus Köln fasst es so zusammen: “Ich nehme von diesem internationalen Austausch ganz viel mit. Wir sprechen zwar nicht die gleiche Sprache, aber uns verbinden die gleiche Leidenschaft und die gleichen Ziele.” Sie sei dankbar, so vielen engagierten Menschen kennengelernt, von ihnen gelernt zu haben und sich mit ihnen gemeinsam für die gleiche Sache einzusetzen.

Bilder: © Sascha Rutzen

Das Projekt ist Teil der Projektreihe „Building Future Bridges“ der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke. Die Projektreihe wurde aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert.