Stolz und Vorurteile: Deutsch-Türkische Jugendliche und der Bergbau

In Castrop-Rauxel ist der Bergbau Geschichte, in Zonguldak präsenter Alltag. Wie bringt man beide Perspektiven zusammen? Ein Team junger Menschen aus beiden Partnerstädten sammelt Antworten.

Fördertürme in Aktion, schwarzer Staub in der ganzen Stadt. „Ich kenne solche Bilder nur aus Erzählungen von meinem Opa“, berichtet Rosalie aus Castrop-Rauxel. „Der hat hier nebenan in der Zeche Erin als Dreher gearbeitet.“ Wie viele andere Jugendliche im deutschen Ruhrgebiet hat die 16-jährige Schülerin ansonsten zwar in der Grundschule gelernt, wie stark der Bergbau ihre Heimat bis in die 1980er Jahre geprägt hat. In ihrem eigenen Leben aber finden Zechenhäuser und Kokereien höchstens noch als Veranstaltungslocations statt. Zonguldak, Castrop-Rauxels Partnerkommune an der Schwarzmeerküste, ist dagegen auch heute eine „Zwei-Etagen-Stadt“, wie der 22-jährige Fotograf Ahmet es formuliert, der von dort stammt. Fast in jeder Familie gibt es jemanden, der in irgendeiner Form im Bergbau aktiv ist. „Mein Vater ist Ingenieur, er prüft Bergwerke in der ganzen Region“, erzählt Ahenk, ebenfalls 22 Jahre alt und selbst Kardiotechnikerin. „Wir leben mit der Steinkohle auch im Alltag – das prägt natürlich unsere Perspektive darauf.“

Ein Buch als Gemeinschaftsprojekt

Wie man beide Perspektiven unter einen Hut bringen kann, die türkische und die deutsche, haben Ahenk, Ahmet, Rosalie und ihre Mitstreiter*innen im Modellprojekt „Jugend gestaltet Städtepartnerschaft“ ausgelotet. Das Projekt hat Schüler*innen und Studierende aus Partnerkommunen beider Länder im Sommer und Herbst 2021 in mehreren Online-Workshops zusammengebracht. „Anfangs wusste ich überhaupt nicht, dass es in Castrop-Rauxel gar keinen Bergbau mehr gibt“, erinnert sich Semih, 21 Jahre alt und Psychologiestudent in Zonguldak. „Aber inzwischen sehe ich, wie spannend der Blick der Castrop-Rauxeler auf ihr industrielles Erbe ist. Wenn wir Jungen uns zusammentun, können wir viel für das öffentliche Bild unserer Städte erreichen“. Der gemeinsame Plan, entwickelt in den Workshops: Ein deutsch-türkisches Buch, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Bergbaus und seines Erbes in beiden Städten beleuchtet. Dokumentarische und künstlerische Beiträge, Bilder und Texte, Interviews und Essays– alles, was die Kreativität der Beteiligten hergibt, soll darin einen Platz bekommen.

Besuche auf Zechen, Interviews mit Expert*innen

Semih etwa, der in seiner Freizeit dichtet, will seine schriftstellerische Kompetenz einbringen, Ahmet, der schon viele Bergbau-Motive fotografiert hat, sein visuelles Know-how.
Ahenk möchte ihren Vater zum Mitmachen motivieren und Rosalie denkt darüber nach, dass die Bergbau-Geschichte ihrer Stadt auch Stoff für gruselige oder unterhaltsame Anekdoten bieten könnte. Welche Produktionsverfahren hat man in Deutschland genutzt, welche prägen heute den Bergbau in Zonguldak? Wie leben ehemalige Kumpel im Alter, was wünschen sie sich? Was wird aus Flächen, die man nicht mehr für die Industrie benötigt? Das Team hat eine Vielzahl an Aspekten im Blick, die das Buch aufgreifen soll. Gemeinsame Besichtigungen auf Zechen, in Museen und in geologisch interessanten Revieren, Interviews mit Expert*innen und viel Literaturrecherche sollen dabei helfen, die Themen mit dem nötigen Tiefgang aufzubereiten. Die Details will das Team Anfang 2022 in einem virtuellen Planungstreffen festlegen, für das Frühjahr ist ein Vor-Ort-Besuch in einer der Städte angedacht. Vertreter*innen der beiden Kommunen, bereits in den ersten Workshops mit von der Partie, sollen dabei als Brückenbauer und Türöffner zu den jeweiligen Institutionen zum Einsatz kommen.

Die emotionale Bedeutung beleuchten

Wie eng die Bergbau-Geschichte der beiden Städte miteinander verbunden ist, hat bereits jetzt starken Eindruck bei den Teilnehmenden hinterlassen. „Viele ehemalige Bergleute aus Zonguldak haben früher in Castrop-Rauxel gearbeitet“, weiß Ahmet. „Sie sind stolz darauf, was sie dort und hier geleistet haben. Ich finde es wichtig, dass wir auch diese emotionale Bedeutung des Bergbaus im Buch beleuchten.“ Rosalie wiederum kennt zahlreiche Mitschüler*innen, deren Familien vor vielen Jahren für den Einsatz auf den Zechen nach Castrop-Rauxel gekommen sind. Motiviert durch „Jugend gestaltet Städtepartnerschaft“, hat sie sich vorgenommen, deren Geschichten besser kennenzulernen und noch mehr Jugendliche für das Buchprojekt zu begeistern. Sie will mit dem Buch auch gegen Vorurteile angehen, die in Deutschland gegenüber ihrer Heimatregion herrschen: „Viele wissen überhaupt nicht, wie schön die Natur hier heute ist und wie gut es gelungen ist, die alten Industrieanlagen anders zu nutzen“, meint sie. Was sie sich wünscht, damit die Zusammenarbeit mit den Zonguldakern zum Erfolg wird? „Dass wir das Buch tatsächlich umsetzen – und es nicht die letzte Aktion bleibt, die wir gemeinsam auf die Beine stellen!“

Das Projekt ist Teil der Projektreihe „New Pathways for German-Turkish Youth Exchange“ der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke.
Die Projektreihe wurde aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert.