Wenn Lehrkräfte zum Lernen zusammenkommen –
ein Fortbildungsprogramm zum Thema diversitätssensible Schule

Es ist ein Montagmorgen im frühen Dezember in Berlin. Der Tag könnte kälter, aber nicht grauer sein. Hier, in der Kreuzberger Werner-Düttmann-Siedlung – einem Sozialbau aus den 80ern – beginnt das zweite Modul der Fortbildung zum Thema Diversität und Diskriminierung im Schulkontext. Das erste Modul fand bereits in Izmir statt.

Im Jugendtreff „Drehpunkt“ kommen heute Lehrkräfte zusammen, von denen sechs in der Türkei und sieben in Deutschland unterrichten. Es ist eine von zwei Gruppen der Fortbildung, die von den Kooperationspartnern Intersektionales Bildungswerk in der Migrationsgesellschaft (IBIM e. V.) aus Berlin und der BAYETAV-Stiftung aus Izmir unter Förderung der Jugendbrücke durchgeführt wird.

Wer hat eigentlich ein Problem mit Identität?

Der Beamer geht an und wirft ein Video an die Wand. Die Szene zeigt einen kleinen Jungen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Er unterhält sich mit seinem Vater. Mit einem überzeugenden Lächeln sagt das Kind, es sei deutsch. Sein Vater wundert sich: „Wenn deine Mutter türkisch ist und dein Vater auch, wie kannst du dann deutsch sein?“ Antwort: „Na, dann sind wir eben alle deutsch.“ Die Frage der Identität ist eine Herausforderung. Aber wessen Herausforderung eigentlich?

In einer Seminarübung zum Thema Mehrfachidentitäten werden Biografien von Jugendlichen analysiert. Aycan Demirel, Vorstandsvorsitzender von IBIM e. V., und Ayzin Akgün, Bildungsreferentin bei der BAYETAV-Stiftung, sind der Meinung, Lehrkräften fehlte häufig die Kompetenz im Umgang mit Problemen, die mit Mehrfachidentitäten verbunden seien. In beiden Ländern – Deutschland und der Türkei – müssten sich Schüler*innen definieren und würden auch ganz unweigerlich von außen definiert. Aus vielen kleinen Erzählungen, welche die beiden für die Lehrkräfte mitgebracht haben, gehen die Nuancen der Selbstbilder hervor. Aus der Spaltung des „Entweder-Oder“ wird die Parallele des „Sowohl als auch“. Mal ist es auch ein „Weder-Noch“. Die Herausforderungen in Bezug auf Identität beträfen keinesfalls nur Schüler*innen. Vielmehr sei es ein gesamtgesellschaftliches Problem, welches vielfältige Perspektiven nicht zulässt, sondern Menschen kategorisiert und Identitäten zuschreibt.

Zwischen Vergessenwerden und Vorbild sein

Lehrkräfte haben eine große Verantwortung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sie teilen nicht nur ihr Wissen, sondern vermitteln auch Werte und formen die Vorstellungen der nächsten Generation. Nahezu jede*r erinnert sich an eine Lehrkraft, die besonderen Einfluss auf das eigene Leben genommen hat – positiv wie negativ. Das sagt auch Tuğba Tanyılmaz, Workshopleiterin des zweiten Moduls. Es werde oft unterschätzt, wie viel Macht Pädagogik haben kann. Sie selbst habe sich am Anfang ihrer Karriere vor 22 Jahren folgenden Vorsatz vorgenommen: „Ich möchte lieber vergessen werden, als schlecht in Erinnerung zu bleiben“. Denn die menschliche Erinnerung behalte vor allem das Schlechte.

Burçak Tuncel, Lehrerin aus Mannheim, erzählt in der Runde von einer Erfahrung, die sie als Klassenlehrerin gemacht hat. Ein Schüler kam eines Tages zu ihr und fragte, warum sie so gut Türkisch spreche. In dem Moment wurde ihr klar, dass für den Schüler der Beruf der Lehrerin und Türkisch-Sein nicht zusammen passten. Er dachte, sie hätte Türkisch einfach gelernt, so wie er eben Englisch. Durch eigene Erfahrungen weiß sie, wie wichtig es ist, ein Vorbild zu sein und Möglichkeiten aufzuzeigen: zu unterstützen, anstatt zu begrenzen. Oft hätten die Jugendlichen, die von außen als Türkisch definiert würden, gar keinen tiefergreifenderen Bezug mehr zur Türkei. Das wolle sie ändern und ihre Identität stärken, ihnen eigene Zugänge zur Türkei ermöglichen. Deswegen seien Austauschprogramme für Schüler*innen von unschätzbarem Wert.

Ohne Worte Gruppen bilden

Dass es gar nicht so leicht ist, die gute Laune auch bei schweren Themen beizubehalten, ist der Gruppe fast nicht anzumerken. Bei einer der beiden Gruppen sprechen alle Türkisch, die andere ist sprachlich gemischt. Dieser Gruppe stehen zwei Dolmetscher zur Seite. Auch wenn sie die kleinen, privaten Momente zwischendurch nicht übersetzen, sind alle einander sehr zugewandt, lachen viel und kommen sich näher. Das gemeinsame Lernen und die geteilten Erfahrungen stehen im Vordergrund. Die Einheit und emotionale Verbundenheit in der Gruppe ist sofort spürbar. Auch bei einer von vielen Übungen, die im Laufe des Seminars durchgeführt werden. Alle Teilnehmenden bekommen unterschiedlich geformte, farbige Punkte auf die Stirn geklebt. Die Aufgabe: In 15 Minuten Gruppen bilden, sprechen ist verboten. Unter großem Durcheinander werden erst Formen, dann Farben zum gemeinsamen Merkmal der Gruppenbildung herangezogen, bis sich die erste Gruppe entscheidet, keine Mitglieder mehr aufzunehmen. Die Übung demonstriert den Lehrerkräften, wie Dynamiken von Einschluss und Ausgrenzung und von Selbst- und Fremdzuschreibung funktionieren.

Insbesondere Lehrkräfte aus Schulen mit einem hohen Anteil von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrung wurden durch dieses Seminar gefördert. Kathrin Schacken vom Berufskolleg NRW findet das besonders wichtig. Sie unterrichtet selbst an einer solchen Schule. Zusätzlich sind viele ihrer Schüler*innen auch von sozialer Ausgrenzung und Armut betroffen. Als sie erfährt, dass die Jugendbrücke nicht nur dieses Projekt, sondern auch Schüleraustausche zwischen der Türkei und Deutschland ermöglicht, ist sie begeistert. „Gerade für solche Schüler gibt es wenig Förderungsmöglichkeiten“, meint Schacken. „Alles, was es sonst gibt, ist für Schüler und Familien, die sich das eben leisten können.“ Ein großes Problem bleibt jedoch: Schulen seien oft starr und wenig flexibel. Engagierte Lehrkräfte kommen sich häufig wie „Einzelkämpfer*innen“ vor, hört man aus der Gruppe. Die nun zu Ende gehende Fortbildung der Jugendbrücke konnte zumindest für diese Gruppe von Lehrer*innen eine Möglichkeit für Veränderungen schaffen. Mit starken emotionalen Beziehungen gehen sie jetzt wieder in ihren Alltag zurück. Als engagierte Multiplikator*innen werden sie Erfahrungen und neues Wissen in ihre Schulen tragen und Stück für Stück das Schulsystem diskriminierungsärmer und diversitätssensibler machen.

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