Informell und inklusiv – der digitale Austausch „Was geht? – Ne var ne yok?“ lässt Barrieren kleiner werden
Beim Projekt „Ne var ne yok?– Was geht?“ lernen sich Jugendliche aus Bremen und Diyarbakır online kennen und tauschen sich über ihren Alltag, gemeinsame Interessen und kulturelle Besonderheiten aus. Neben einer gemeinsamen Whatsapp-Gruppe und Treffen auf Zoom machen diverse digitale Tools wie Padlet, Mentimeter und Kahoot das Eintauchen in die Lebenswelt der anderen unkompliziert und spielerisch möglich. Den Projektpartnern Petri & Eichen Diakonische Kinder- und Jugendhilfe Bremen gGmbH und dem Diyarbakır SinemaDerneği aus Diyarbakır in der Türkei ist es dabei besonders wichtig, ein niedrigschwelliges Angebot zu bieten, das möglichst inklusiv ist und den Jugendlichen Freiraum in der Gestaltung gibt. Wir haben mit Simon Sleegers von Petri & Eichen über das Potenzial digitaler Austauschprojekte, Inklusion und die Effekte von Mehrsprachigkeit gesprochen.
Wie ist die Idee für das Projekt entstanden?
Simon Sleegers: Die Idee kam letztlich von den Jugendlichen selbst. Nach den vergangenen digitalen Austauschprojekten haben wir (als Expert*innen der Organisation) gemeinsam mit ihnen (als Expert*innen der Teilnahme) überlegt, wie wir das Programm und die Strukturen verbessern können, sodass es noch leichter zugänglich und interessanter für sie wird. Was interessiert sie eigentlich wirklich? Was schaffen sie in ihrem Alltag und was ist auch innerhalb der Corona-Maßnahmen umsetzbar? Da hat sich gezeigt, dass sich die Teilnehmenden vorrangig für den Alltag der anderen interessieren und wir haben überlegt, wie man das im Projekt besser abbilden kann. Da haben wir gedacht: Probieren wir es doch mit einer Messenger-Gruppe und spezifischen Themen, über die sich die Jugendlichen austauschen können. Jetzt gibt es tageweise Dienste, an denen sich Jugendliche für die Gruppe verantwortlich fühlen und Wochenthemen wie Hobbies, Schule und Essen. Im Austausch darüber lernen die Jugendlichen sich gegenseitig und ihr Alltagsleben besser kennen.
Was sind die bisherigen Erfahrungen und Rückmeldungen aus dem Projekt?
Simon Sleegers: In unserer Jugendeinrichtung arbeiten wir nach dem „Offenen Tür“-Konzept. Das bedeutet, dass alle kommen und gehen können, wann und wie sie möchten und alle frei entscheiden können, in welcher Weise sie sich einbringen. An unserem digitalen Austauschprojekt können die Jugendlichen ähnlich unkompliziert und ihren Bedürfnissen entsprechend teilnehmen – was ihnen sehr gut gefällt. Auf diese Weise werden sie immer eigenständiger und empowerter: Sie haben ihre Gruppe, in der sie sich austauschen können, haben ihre Witze und Memes und können das frei gestalten. Die vorherigen Projekte waren noch mehr aus der Perspektive der Erwachsenen gedacht. In unserem jetzigen Konzept hingegen gibt es viel mehr Raum für informellen Austausch – also quasi das, was bei einem Austausch in Präsenz in der Pause passieren würde, wenn die Jugendlichen Quatsch machen, sich unterhalten etc.. Wir arbeiten daran, auch online möglichst viel Informalität zu erzeugen.
Die Jugendlichen haben dabei eigenständig schon viel dazu gelernt, zum Beispiel, dass man Nachrichten, die man zusammen mit Fotos verschickt, nicht zum Übersetzen herauskopieren kann. Das haben die Jugendlichen auf beiden Seiten bemerkt und sich gegenseitig dazu aufgerufen, das lieber getrennt zu schicken. Was Medien angeht sind sie super fit. Letztens fragte zum Beispiel eine Teilnehmerin auf Deutsch, wie man in der Türkei den Führerschein macht und die Menschen von dort haben ihre Frage und die Antworten selbst übersetzt und direkt auf Deutsch zurückgeschickt.
Welche Potenziale bergen digitale Projekte für den Jugendaustausch?
Simon Sleegers: Dieses digitale Projekt lässt sich sehr gut in den Alltag integrieren, weil die Jugendlichen das dezentral machen können. Das Schöne an dem Projekt ist, dass die Jugendlichen sich selbst suchen können, was sie brauchen und der Ablauf nicht starr vorgegeben wird. Es ist auch sehr förderlich, dass abseits der großen Gruppe kommuniziert werden kann. Wir Organisator*innen sind dafür verantwortlich einen konzeptionellen Rahmen abzustecken, eine Plattform zu bieten und Anregungen zu geben – und die Teilnehmenden können selbst entscheiden, wie sie diesen Rahmen nutzen und bespielen. Das ist letztlich auch die Philosophie des „Offene Tür“-Konzepts: Dass wir einen sicheren und stärkenden Rahmen stellen, in dem sich Menschen ausprobieren können.
Wie müssen Rahmenbedingungen für digitale Projekte aussehen, um inklusiv zu sein?
Simon Sleegers: All unsere Teilnehmenden können manches gut und anderes noch nicht so. Wir sind dafür verantwortlich, den Rahmen so zu gestalten, dass alle befähigt und möglichst niemand behindert wird. Aus diesem Grund versuchen wir die Projekte so facettenreich und niedrigschwellig aufzuziehen, dass sie möglichst viele unterschiedliche Menschen abholen. Smartphones sind da wirklich gute Hilfsmittel, durch die man sich beispielsweise auch etwas vorlesen lassen kann oder dem Handy sagen kann, was es machen soll. Bei diesem Projekt ist es so, dass man, auch wenn man nicht gut lesen kann, mit Hilfe der Fotos partizipieren kann. Und auch über Sprachnachrichten kann einfach kommuniziert werden: So kann ich zum Beispiel Teilnehmenden die nicht lesen können, Infos in einem separaten Chat per Sprachnachricht zukommen lassen oder nachhaken, ob alles verständlich ist.
Auf beiden Seiten der Projektpartner ist dieser große Wunsch, möglichst offen zu sein, gegenüber Menschen, die unterschiedliche Stärken und Unterstützungsbedarfe haben. Gerade auf türkischer Seite setzen sich die Partner*innen sehr dafür ein, Jugendliche mit Behinderung zu erreichen und für den Austausch zu mobilisieren. Dieses Projekt eignet sich gut dafür, weil man sich sehr einfach einklinken kann und sich auch daran orientieren kann, was andere schreiben und schicken.
Welche Effekte von Mehrsprachigkeit ergeben sich bei den Teilnehmenden?
Simon Sleegers: Als wir das Projekt angefangen haben, wurde direkt deutlich, was für einen Schatz an Sprachen unsere Teilnehmenden mitbringen. Manche sprechen Türkisch, Arabisch und Deutsch, andere Kurdisch, Englisch und Gebärdensprache. Um all dies sichtbar zu machen, haben wir mit einem digitalen Abstimmungstool abgefragt, wer welche Sprachen spricht und Querverbindungen aufgezeigt. Darüber hinaus haben ihnen gezeigt, wie sie selbstständig Nachrichten online übersetzen können und sie mit Methoden der Sprachanimation spielerisch an die Auseinandersetzung mit einer Fremdsprache herangeführt.
In der Messenger-Gruppe findet die Kommunikation mittlerweile teils in vier verschiedenen Sprachen statt. Und mit dem Google Translator wird es einfach, diese Sprachbarrieren zu überwinden. In welcher Sprache man sich ausdrückt, wirkt in diesem Format fast irrelevant – das wäre in real natürlich komplizierter! Das ist schon toll, dass man sich wirklich unterhalten kann und so auch private Chats untereinander entstehen. Für die Jugendlichen war es auch eine besondere Erfahrung, dass Mehrsprachigkeit, die im Schulsystem oft nur wenig anerkannt werden kann, im Rahmen des Projekts viel Wertschätzung erfährt und endlich mal (wieder) angewendet und erprobt werden kann.
Sollten digitale Formate auch nach der Pandemie innerhalb der Jugendarbeit genutzt werden?
Simon Sleegers: Wir würden dieses Konzept in Zukunft gerne realen Jugendbegegnungen als Kennenlern-Format voranstellen. Der Aufwand der Vorbereitung ist gering und es bietet den Jugendlichen die Möglichkeit, sich schon ein bisschen zu beschnuppern. Zeitgleich gibt es durch die Themen auch konkrete Aufgaben, die Sicherheit und Orientierung bieten. Durch die Selfies, welche die Jugendlichen in die Gruppe schicken, hat man schon mal ein erstes Gesicht vor Augen und in der Gruppe können erste Gemeinsamkeiten wie ähnliche Hobbys und Interessen entdeckt werden.
Wir könnten uns auch vorstellen, eine Nachbereitung auf diese Art machen – um den Austausch noch mal zu dehnen und die Erlebnisse besser in das eigene Leben zu integrieren. Der Transfer, Dinge in das eigene Leben mitzunehmen, ist eine spezielle Herausforderung bei diesen Jugendbegegnungen. So ein Update des Projekt könnte helfen, die bereichernden Erfahrungen und das besondere Lebensgefühl noch mehr im alltäglichen Leben zu verankern.