(Un)Stranger Neighbours – listen, build and connect

Ein Jugendaustausch, dessen Titel erst einmal widersprüchlich klingt: (Un)Stranger Neighbours – (Nicht)Fremde Nachbar*innen. Was sollen die teilnehmenden Jugendlichen aus der Türkei und Deutschland darunter verstehen? Wer sich auf das Wortspiel einlässt, stellt schnell fest, dass sich Menschen auch dann sehr oft fremd sind, wenn sie Haus an Haus, Tür an Tür wohnen. Diesen Umstand haben auch die Organisator*innen des Projekts erkannt und ihn zum Dreh- und Angelpunkt dieses Jugendaustauschs gemacht. Doch mit dem Untertitel „Listen, Connect and Build“ (Zuhören, Verbinden und Aufbauen) eröffnen sie gleich auch einen Vorschlag, wie das Fremde überwunden werden kann.

Die 17 teilnehmenden Jugendlichen beider Länder zeichnen sich durch eine Besonderheit aus, die sie wiederum verbindet: Sie alle gehören nicht zu Mehrheitsbevölkerungen in ihren jeweiligen Ländern. Aus Deutschland reisen Jugendliche mit türkischen Wurzeln zur ersten von zwei Projektwochen nach Izmir. Dort treffen sie auf Jugendliche aus Istanbul mit griechischer Migrationsgeschichte und Angehörige der jüdischen Gemeinde von der türkischen Ägäisküste. „Die Reflexion über die Identität einer „Minderheit“ in einer vielfältigen Gesellschaft ist das erste wesentliche Ziel, welches im November 2022 zunächst hier und einen Monat später in Heidelberg vermittelt werden soll“, erklärt Liza Cemel vom Berliner Verein Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e. V. (KigA e.V.)

Bei Tee und Gebäck Gemeinsamkeiten entdecken

Nach einem ersten Kennenlernen wird unter den binationalen und multiethnischen Teilnehmenden zunächst eine gemeinsame Basis geschaffen: Was ist eigentlich eine Minderheit und wie definiert man diese? Welche Erfahrungen haben die Teilnehmenden selbst schon in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaften an ihrem jeweiligen Wohnort gemacht? Der 18-jährige Jael ist aus Berlin angereist, nachdem ihm Freunde vom Projekt erzählt haben. Eines der behandelten Themen bleibt ihm besonders im Gedächtnis: Die Frage, wie man es verhindern kann, dass man sich als Minderheit fühlt. Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. „Manche haben gesagt, es solle hier rein und da raus gehen“, erzählt Jael und deutete dabei auf seine Ohren. „Ich denke auch, dass man einfach so leben soll, wie man möchte. Am Ende sind wir ja alle Menschen, es sollte also egal sein, ob man zu einer Minderheit gehört oder nicht.“

Eine andere Möglichkeit zur Überwindung von Unterschieden bzw. deren Konfliktpotenzial besteht in der Suche nach Gemeinsamkeiten. Damit die Jugendlichen diese Erfahrung machen können, holen sich die Organisator*innen zusätzliche Unterstützung. Am Morgen des dritten Projekttages erscheint neben Religion und Ethnie eine weitere Kategorie auf der Bildfläche, die Menschen eine Gruppenzugehörigkeit aufzwingen kann: das Alter. „Bei einer Aktivität“, erklärt Liza Cemel, „trafen wir uns in der portugiesischen Synagoge mit liebenswerten älteren Damen aus der jüdischen Gemeinde von Izmir. Wir teilten uns in Gruppen auf und versuchten, die „andere“ Seite kennenzulernen.“ In Gruppengesprächen bei Tee und Gebäck stellen sich beide Altersgruppen viele Fragen und hören dementsprechend aufmerksam zu. Der erste Schritt des Projekt-Untertitels ‚Zuhören‘ funktioniert reibungslos. Auch die verbindenden Elemente sind schnell gefunden, als beispielsweise über gemeinsame Wohnorte, Lieblingsspeisen und sprachliche Überschneidungen gesprochen wird.

Haus an Haus, Tür an Tür – unbekannte Vielfalt unter Nachbar*innen

Das von der Jugendbrücke geförderte Projekt „(Un)Stranger Neighbours“ ist jedoch weder trockene Theorie noch Kaffeeklatsch. Im Gegenteil: Den Jugendlichen soll auch die Chance gegeben werden, kulturelle Vielfalt hautnah zu erleben. Organisiert und durchgeführt wird der Austausch neben KIgA e. V. aus Berlin von der Stiftung der jüdischen Gemeinde Izmir. Zu dieser gehört Ceki Hazan, der das zweite Ziel der Projekttage in Izmir so erklärt: „Wir wollen den Reichtum von Izmir und die kulturelle Vielfalt durch die Brille der jüdischen Bevölkerung betrachten. Im Besonderen möchten wir unseren deutsch-türkischen Gästen die religiösen Minderheiten in der Türkei vorstellen. Natürlich gibt es davon viele verschiedene; wir als jüdische Gemeinde von Izmir sind nur eine davon, doch wir wollen unsere lokale Kultur hier in Izmir zeigen. Sie sollen verstehen können, dass es auch eine kulturelle Vielfalt in der Türkei gibt, denn wir haben den Eindruck, dass dies in Deutschland bei den Deutschtürken wenig bekannt ist.“

Dass gerade Izmir ein idealer Ort für dieses Vorhaben ist, zeigt sich an der Wahl des Programms an diesem dritten Tag. Gemeinsam mit einem externen Guide besucht die Projektgruppe zwei Synagogen, zwei Moscheen und zwei Kirchen, die allesamt in einem sehr kleinen Radius mitten in der Altstadt von Izmir zu finden sind. Architektur und Geschichte der jeweiligen Gebäude sind atemberaubend. Und natürlich sind auch die vom Reiseleiter angesprochenen Verbindungen und Überschneidungen von religiösen Praktiken und dekorativen Elementen spannend. So trifft das eigentlich Faszinierende an den verschiedenen Gotteshäusern genau den Kern des Projekts: die eben nur scheinbare Fremde unter Nachbar*innen, die doch Haus an Haus, Tür an Tür leben.

Zuhören, Verbinden und Aufbauen

„Ich hatte noch nie in meinem Leben griechische Freunde“, erklärt Koral aus Izmir. „Durch dieses Projekt hat sich das geändert und ich habe die Möglichkeit bekommen, interessante Begegnungen zu machen.“ Die Studentin erfüllt damit auch den dritten Punkt des Untertitels: Sie baut neue Verbindungen und Freundschaften auf, in dem sie die Anknüpfungspunkte im scheinbaren Fremden entdeckt. “Ich will es so formulieren“, sagt Karol, „wir lernen hier etwas über drei verschiedene Religionen. Ich dachte, dieses und jenes gäbe es nur im Judentum. Die Glocken auf der Thora zum Beispiel, doch fand ich sie auch hier in der Kirche. Mir gefällt das. Ich hoffe, dass ich in Zukunft noch andere solche Dinge entdecken werde.“ Zunächst aber werden sie und die anderen Teilnehmenden für die zweite Projektwoche nach Heidelberg reisen, um dort weitere Begegnungen zu machen und ihre Erfahrungen zu vertiefen.

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